Leseprobe

 

Flucht nach vorn (aus: Das Donarium und die dunkle Festung)

 

Plötzlich waren um die Gangbiegung herum vor ihnen Schritte und Stimmen zu hören, die sich rasch näherten.
„Da hast du’s!“, sagte Carlo. „Da rollt bereits die nächste Lawine auf uns zu!“
„Komm, es ist besser, wir lassen uns nicht von ihr überrollen und machen uns für einen Augenblick dünne!“
Mario und Carlo gingen ein Stück zurück und wichen in einen schmalen Seitengang aus, der einige Meter hinter ihnen als Sackgasse auslief. Dort wollten sie warten, bis die Dämonen hoffentlich an ihnen vorüberzogen.


„Immer dieses ewige weite Gelatsche, bis man von ganz da unten wieder ganz da oben ist, jedes Mal die selbe Tortour! Der Chef könnte längst schon einen Fahrstuhl installiert haben, nicht war, Ewald?“
„Das kannst du laut sagen, Fritz! Aber wir kleinen Arbeiter sind halt immer die Dummen und können sehen, wie wir mit alldem fertig werden, was man uns aufbürdet!“
Die beiden Hornkämpfer, der dicke Fritz und der lange Ewald, waren mit dem schwarzen Magier Hadrian und der Hexe Petunia auf dem Rückweg aus den Katakomben Richtung Thronsaal.
„Ich weiß überhaupt nicht, was ihr habt“, sagte Petunia teilnahmslos, „ist doch ein ganz netter Spaziergang!“
„Ha, ha, wie komisch, selten so gelacht!“, entgegnete der dicke Fritz und wischte sich mit seinem grün karierten Stofftaschentuch den Schweiß von der Stirn. „Du sitzt ja auch auf deinem fliegenden Besen und lässt dich chauffieren!“
„Ja, ja, jeder so, wie er es verdient. Glaub mir, ich würde nur zu gerne mit dir tauschen, aber mein Besen nicht, der hat nämlich zu große Angst, dass er bei deiner Leibesfülle entzweibricht!“, lachte die Hexe hämisch.


Fritz’ Kopf, der von den Wegestrapazen schon hochrot angelaufen war, wurde nun vor Ärger noch roter.
„Na warte, gleich hol ich sie vom Besen, diese alte Hexe, die...!“
„Lass sie und spar dir lieber deine Kräfte, es ist noch ein Stück!“, sagte der lange Ewald und hielt seinen Kumpel zurück, der sich schon die Ärmel hochgekrempelt hatte und auf Petunia losgehen wollte.
Mario und Carlo hatten sich indes eng an die Höhlenwand gepresst, die hier so zerklüftet war, dass man die beiden im Vorbeigehen aus dem Kreuzgang garantiert nicht sehen konnte. Außerdem war es ziemlich unwahrscheinlich, dass jemand in diese Sackgasse einbiegen würde.
Doch sie hatten die Rechnung ohne den Wirt gemacht.
Kurz bevor die Dämonen die Kreuzung erreichten, bewegte sich plötzlich die Wand vor Mario und Carlo und heraus löste sich der übrig gebliebene Fledermausvampir von vorhin. Hierher war er also geflüchtet.


Mario und Carlo starrten mit weit aufgerissenen Augen auf die Kreatur, und noch ehe sie reagiert hatten, stieß das Ungetüm einen markerschütternden Schrei aus, dass es überall von den Gängen widerhallte. Gleichzeitig stürzte die Bestie vor, genau in Carlo Canonis Bajonett, der reflexartig das Gewehr hochgerissen hatte. Carlo zog es zurück und der Vampir zerfiel unter lautem Geschrei zu Staub.
„Verdammt, was war das für ein Höllenlärm?“, drang eine Stimme an die Ohren der beiden Verborgenen, deren Tarnung somit aufgeflogen war.
„Das kam von da vorne, links aus dem Gang heraus - los, Großer“, gemeint war Hadrian, „jetzt bist du dran! Zeig, was dir Hector Levoisier beigebracht hat!“
Der dicke Fritz und der lange Ewald gingen hinter dem schwarzen Magier so gut es ging in Deckung und schoben ihn wie ein Schutzschild vor sich her.


„Los, Carlo, nichts wie raus aus dieser Mausefalle!“, zischte Mario leise und die beiden Männer verließen fluchtartig ihr Versteck. Hadrian war gerade halb um die Ecke gebogen und hatte seine teuflische Axt zum Schlag erhoben, als Mario und Carlo die Gangkreuzung erreichten und an ihm vorbeistürzten.
„Vorsicht! Ah,...“, schrie Mario, der vorausgeeilt war, und zog den Kopf ein. Zischend sauste die Schneide der Axt an seinem Ohr vorbei und schlug krachend in die Gangwand. Carlo hechtete unter der Waffe hindurch, als diese noch im Felsen steckte, rollte sich ab und kam im gegenüberliegenden Gang wieder auf die Beine.
Er stand noch nicht richtig, als ihn ein harter Schlag im Rücken traf. Die Hexe Petunia war pfeilschnell mit ihrem Besen herangesaust und hatte das Kehrgerät hart in Carlos Kreuz gerammt.


Carlo stürzte und lag rücklings am Boden, als er den Schatten über sich sah. Es war der Hüne mit seiner Mörderaxt. Er holte aus und schlug zu. Carlo wich geschickt aus und wand sich wie ein Aal am Boden. Wieder und wieder hieb die Schneide der Doppelaxt neben ihm, über ihm und zwischen seinen Armen und Beinen in den Felsen hinein.
Die beiden Hornkämpfer, der dicke Fritz und der lange Ewald, hatten sich hinter die nächste Gangbiegung zurückgezogen, denn gewaltsame Auseinandersetzungen waren nicht ihre Sache. Schließlich waren sie als ausgebildete Boten und Führer keine Soldaten, sondern Zivilisten und hatten vom Kämpfen keine Ahnung.
Mario hatte unterdessen mit der verdammten Hexe zu kämpfen. Zwei Mal hatte sie ihn bereits umgeflogen. Mario kam überhaupt nicht mehr richtig auf die Füße. Die Alte flog wie der Blitz und hatte einen Heiden Spaß dabei. Laut kreischend nahm sie einen neuen Anlauf und raste auf Mario zu. Mario schoss mit seiner Pistole. Die Hexe tanzte und drehte sich mit ihrem Besen wild in der Luft herum und wich den Kugeln aus.


„Ja, wer Petunia kriegen will, muss früher aufstehen, hahaha, hihihi!“, kreischte die Hexe.
Mario begriff, dass er so nicht gegen die Hexe ankam, und beschloss, es auf eine andere Weise zu versuchen. Er steckte die Pistole weg und ließ die Hexe auf sich zurasen. Dabei bereitete er sich auf einen härteren Zusammenstoß vor.
Mario stand breitbeinig im Gang und schrie der Hexe entgegen: „Komm schon, du hässliche, alte Schrulle, du, ich werd dir deinen verfluchten Besen in den Hals rammen!“
„Ich mach dich fertig, Bürschchen!“, hallte es Mario entgegen.
„Versuchs nur, hier bin ich, du fliegendes Natterngezücht!“, provozierte Mario die Hexe Petunia, die noch lauter kreischte als zuvor.
Mario ballte die Fäuste. Die Hexe rauschte heran und flog frontal auf ihn zu. Kurz vor der Kollision sprang Mario zur Seite und streckte beide Arme vor. Petunia flog in sie hinein, wie in eine Schranke, und lachte schallend auf, als die beiden Extremitäten vom Schwung zurückgeschleudert wurden und Mario zu Boden ging.


„Ha, wolltest mich tatsächlich mit deinen morschen Gräten vom Besen schlagen, wie? Dass ich nicht eben hohl kichere!“
Die Hexe war an Mario vorbeigerauscht, weiter in den Gang hinaus. Mario blieb am Boden liegen und zog den Kopf ein. Dabei presste er beide Handflächen gegen seine Ohren und wartete auf die Explosion der Handgranate, die er der Hexe im Vorbeiflug untergeschoben hatte.
Petunia indes bemerkte, dass irgendetwas Schweres in ihrem Schoß lag. Verwundert blickte sie an sich herab und entdeckte in einer Falte zwischen Rock und Gürtel eine kleine Kugel. Petunia erkannte den Gegenstand und schrie entsetzt auf. Vor Schreck nahm sie die Hände vom Besenstiel und griff nach der Handgranate. Dabei verriss sie das Steuer ihres Gefährts und flog mit lautem Krachen gegen die Gangwand. Eine Sekunde später explodierte die Handgranate.
In der Ferne sah Mario die Feuersäule emporsteigen und Staub von der Höhlendecke herab rieseln, der sich dort in dichten Schwaden im Gang ausbreitete. Von der Hexe war jedenfalls nichts mehr zu sehen.


Mario verlor keine Zeit. Er sprang auf und eilte seinem Kameraden zu Hilfe, der keine Chance gegen den schwarzen Magier hatte.
Fast ein ganzes Magazin an Silberkugeln hatte Carlo auf den Dämon abgefeuert, ohne Wirkung. Hadrian schlug ihm die Pistole aus der Hand und spielte sein böses Spiel mit ihm. Wuchtige Faustschläge und Fußtritte prasselten auf Carlo nieder und zeichneten ihn schwer.
Er war außer Stande zu fliehen und konnte sich nicht mehr aus den Fängen des Ungetüms befreien, das triumphierend die Axt hob, um den am Boden knienden endgültig niederzustrecken.
Mario stürmte von der Seite heran und warf sich todesmutig dazwischen. Kniend, das Gewehr in der Hüfte angelegt, schoss er aus nächster Entfernung eine Salve auf den Dämon, der durch die Wucht des Maschinengewehrfeuers nach hinten taumelte.


Eine schwarze, zähe Flüssigkeit quoll aus den Einschussstellen in seiner Brust. Die Masse pulsierte, zog sich zusammen und verschloss die Wunden wieder, als wäre nichts gewesen.
Mario streckte dem hinter ihm am Boden liegenden Carlo seinen Arm entgegen und zerrte ihn halbwegs auf die Beine. Der verletzte Carlo stützte sich auf die linke Schulter seines Kameraden, der das Gewehr in der anderen Hand dabei stetig auf den Dämon gerichtet hielt.
„Zurück, Carlo, nicht schlappmachen, wir müssen zurück, los, reiß dich zusammen!“, schrie Mario und drängte den Gebeutelten nach hinten.
Mario jagte eine zweite Salve in Kopf und Brust des Dämons. Hadrian strauchelte und fiel hinterrücks um.
Mario stolperte mit Carlo im Schlepptau den Gang entlang, der der Sackgasse auf der anderen Seite der Kreuzung gegenüberlag.


Er führte um unzählige Ecken und kreuzte andere Gänge. Mario und Carlo mussten vorsichtig sein. Die Schüsse hatten überall Wachen alarmiert. Immer wieder mussten sie vor kleineren Trupps von Bumerangskeletten in andere Gänge ausweichen.
Die Skelette waren hier unten im für Skelette üblichen Weiß zu sehen und nicht, wie ihre Verwandten in den weiter oben gelegenen Stockwerken, in schwarzer Farbe.
„Los, ihr müden Knochen, sucht die Eindringlinge und findet sie!“, kommandierte eine Stimme ein paar Gänge weiter. Mario und Carlo mussten erneut die Richtung wechseln.
„Verdammt, Mario, ich glaube, hier waren wir vorhin schon einmal!“, stöhnte Carlo mit schmerzverzerrtem Gesicht. „Das kommt mir doch alles sehr bekannt vor.“
„Es bleibt uns keine andere Wahl, wir müssen hier entlang, hinter uns wimmelt es nur so von Skeletten.“
Die beiden folgten weiter dem schmalen, düsteren Gang, der plötzlich in einer geräumigen Höhle endete. In den Wänden unter der Decke waren mannsgroße Nischen zu sehen. Am Boden lagen Menschenknochen und mumifizierte Skelette herum.


„Verdammt Mario, ich wusste es, wir sind wieder in der Vampirhöhle gelandet!“, ächzte Carlo und löste sich von der Schulter seines Kameraden, der ihn den ganzen Weg über gestützt hatte.
Neben einer Mumie mit einem roten Turban auf dem Haupt ließ er sich erschöpft niedersinken und blieb wie diese mit dem Rücken an die Höhlenwand gelehnt sitzen.
Carlo hielt sich den rechten Oberschenkel. Seine Hose war bis unten hin vollgesogen mit Blut. Mario sah die Verletzung und kniete sich vor seinen Freund auf den staubigen, kalten Höhlenboden. Carlos Gesicht war aschfahl angelaufen. Er hatte bereits viel Blut verloren.
„Mensch, Carlo, dich hat’ s erwischt!“
„Ja, dieses Ungetüm vorhin hat mich mit seiner Axt gestreift.“
Mario’ s Stimme zitterte besorgt. „Schnell, wir müssen das abbinden, sonst verblutest du noch!“


„Ach, lass doch, wir sterben hier früher oder später sowieso, Mario. Aber vielleicht hast du ohne mich ja noch eine Chance!“
„Rede keinen Blödsinn, komm, hilf mir mal!“
„Carlo hob so gut es ging das Bein an und Mario band es mit einem Stück Mull aus dem Notfallpäckchen, das jeder von ihnen auf seinen Einsätzen mit sich führte, provisorisch ab. Dann verband er die Wunde so gut es ging.
Carlo lehnte kreidebleich an der kalten Höhlenwand und atmete schwer. Kalter Schweiß lag auf seiner Stirn und auf seinem Gesicht.
Plötzlich waren aus dem Gewölbe, aus dem sie gekommen waren, ferne Stimmen zu vernehmen: „Hier sind sie entlanggekommen, hier ist Blut, folgt der Blutspur, ihr Hohlköpfe, los, marsch, marsch!“
„Los, Mario, hau hier ab und bring dich in Sicherheit, noch ist Zeit, alleine kannst du es schaffen!“, sagte Carlo.
„Ich gehe entweder mit dir zusammen, oder wir bleiben beide hier!“, entgegnete Mario in einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ.


„Sie waren schon immer ein verdammter Sturkopf, Kapitän! Aber ich bin stolz, unter Ihnen gedient zu haben!“, sagte Carlo und löste aus den vertrockneten Fingern der Turbanmumie neben sich einen alten Zinn- 40- Flachmann heraus, mit dem er seinem Kapitän, der vor ihm am Boden kniete, zuprostete.
„Einen letzten Schluck auf die Freundschaft!“, sagte Carlo und schraubte das Fläschchen auf.
Mario schluckte und merkte, wie seine Augen feucht wurden. Verschwommen sah er Carlo vor sich am Boden sitzen. Es war zum Heulen, dass es so enden musste.
Carlo wollte den Flachmann gerade an seine Lippen setzen, um einen kräftigen Schluck daraus zu nehmen, als plötzlich...